Weggeknipst
Bisher hatte ich das seltsame Phänomen nicht wahrgenommen… Heute, an einem sonnigen Sonntagmorgen war die Schlange der Frühstückshungrigen beim Bäcker so lang, dass ich mich draußen auf dem Gehweg hinter einem mir nicht bekannten, scheinbar älteren Herrn anstellen musste. Ich bin normalerweise sehr kontaktfreudig und neige dazu, ungeplante Wartezeiten mit Hilfe eines anregenden Gespräches erträglich zu machen, aber mein Vorgänger signalisierte diesbezüglich keinerlei Bereitschaft; ja er drehte sich nicht einmal nach mir um. Mein vielleicht ein wenig zu enthusiastisch aufforderndes „Moin“ prallte an seinen schon leicht aufgepillten, etwas verschossenen graublauen Fleecejackenschultern ab und verhallte auch ansonsten unkommentiert in der Runde. Na ja, vielleicht war es einfach noch ein bisschen zu früh, so kurz nach acht.
In der Nacht war ein kräftiger Sturm von Westen über unsere kleine Stadt hinweg gezogen. Prasselnde Regenschauer, laut rauschende Bäume und das Klappern einiger loser Dachziegel irgendwo hatten mich doch ziemlich unrund schlafen lassen. Vielleicht ging es ihm ja genau so wie mir, und wenn er Nordfriese war – Schnack- Modus am Sonntag geht erst nach elf, wenn Kirche aus ist. Merkwürdigerweise erinnere ich mich exakt daran, dass seine leicht gekräuselten Nackenhaare die gleiche Farbe wie seine Jacke hatten. Das sind die Momente, in denen ich mir wünsche, mit den Augen ein knackig-scharfes Close-Up-Foto aufnehmen zu können: Haaransatz – Nackenfalten – Kragenkante, stumpfes Querformat, jede Pore, jede Fluse klar gezeichnet, hochaufgelöst. Museumstauglich vergrößert auf 120 x 80 cm, Titel: „The Daily Shades of Grey“ oder so…
Genau – das Phänomen… Ich blinzelte nach oben, um mich zum zigtausendsten Male an der Postkarten-Skyline der sieben holländisch anmutenden Treppengiebelhäuser am Markt zu erfreuen. Die an der alten hohen Markteiche links oben vorbei- kriechende erste, noch müde Morgensonne gab sich alle Mühe, die erst jüngst stilecht renovierten Fassaden gut aussehen zu lassen. Aber irgendetwas war seltsam. Meine Augen schienen mir offensichtlich einen Streich spielen zu wollen.
Das ganze Gebäude-Ensemble wirkte im oberen Bereich flau und verschwommen, während die unten parkenden Autos davor, die Werbetafeln von Apotheke, Eiscafé, Pizzeria und Grachtenboot-Reederei, knallig in den Farben und gestochen scharf, einen schon fast surrealistischen Kontrast bildeten. Und noch einmal wünschte ich mir sehnlichst die eben beschriebene Kopf-Kamera. So ein Licht gibt es in Natura nur ganz selten. „Stehen Sie auch für Brötchen an?“ Die Dame hinter mir klang leicht ungeduldig – ich war wohl nicht vorgerückt in der Schlange.
Als ich das Backuniversum dann endlich mit einer Tüte voller Frühstückstischüberraschungen für die Lieben daheim verließ, waren Wolkenschleier aufgezogen, und ein leichter Wind ging. „Schade, jetzt ist es vorbei mit diesem magischen Licht“, dachte ich und blickte nochmals nach oben. Merkwürdigerweise hatte sich nichts verändert. In den oberen Etagen der Häuserzeile blieb alles wie leicht und fleckig vernebelt – sogar auch der Himmel ein Stück darüber. Nach unten hin hatte alles wie zuvor die normale, kontrastreiche Farbgebung. „Verrückt – vielleicht muss ich doch mal zum Optiker oder zum Doc, nach meinen Augen gucken lassen. Möglicherweise schlagen doch die Gene meines Vaters durch, und die Netzhaut löst sich irgendwie…“, schoss es mir durch den Kopf.
„Moin Nachbar, gestern einen gehabt? Du guckst so komisch!“ Jan von nebenan hatte ich gar nicht bemerkt, obwohl der eigentlich unübersehbar ist mit seiner Wikinger XXL-Statur. „Nee, ich glaub, einfach nur schlecht geschlafen, bin irgendwie todmüde. Auch Brötchen holen?“ Jan: „Nee Auto holen; steht am Markt – wir sollen nachher zum Wasser, am Boot für den Lampionkorso weiterbauen, muss da noch was einladen!“
Meine Frau lacht, als ich Ihr von meiner Wahrnehmung mit den Häusern am Markt erzähle. „Du hast wirklich eine blühende Fantasie! Das ist bester Stoff für eine Geschichte!“ „Du, das war wirklich so, ich trau mich ja kaum, Dir das zu erzählen,“ entgegne ich eher kleinlaut. „Wenn es wirklich so ist, wie Du sagst, dann geh´ nachher mal raus und schau Dir Maik´s Haus gegenüber an. Das ist auch historisch und frisch gestrichen – ich seh´ da nix Derartiges. Da gehen am Tag mindestens 10 Stadtführungen vorbei…“
Sie nimmt mich einfach nicht ernst. Ich schaue wie stets aus dem Küchenfenster in unseren Garten – alles normal – und beschließe, nach dem Frühstück mal aus unserem Schlafzimmer im ersten Stock unauffällig einen Blick auf das historisch Haus auf der anderen Straßenseite zu riskieren. Will mich ja nicht blamieren. Ich begebe mich unter dem Vorwand, mal auf´s Klo zu müssen, in die erste Etage. Und tatsächlich, Maik´s Haus, eines der ältesten im Ort, ist von oben bis unten ziemlich verschwommen und merkwürdig blass, als wenn ein Weichzeichner-Effekt darüber liegen würde. Am unschärfsten ist der Giebel mit der schwarzen Wetterfahne, die dort aufgesetzt ist. Diese Wetterfahne stellt Neptun dar, der auf den Wellen reitet, weswegen das Haus auch allgemein „das schwarze Ross“ genannt wird und in allen Touristik-Broschüren über Friedrichstadt zu finden ist. Jede Stadtführung geht hier vorbei, und unzähligen Fotografen dient es als Motiv-Futter für Handys, Smartphones und Kameras. „Schaaatz,“ rufe ich „komm doch mal bitte nach oben! Sieh mal, ist das nicht verrückt?“ Meine Frau steht jetzt neben mir. „Maik´s Haus ist fast nicht zu erkennen, und die beiden links und rechts sind wie immer“. Ich spüre Ihre Hand auf meiner Stirn. „Du bist ja ganz heiß – hast Du Fieber? Es ist alles ganz normal da drüben!“ „Ist es nicht – ich bin ganz klar! Ich habe plötzlich einen schlimmen Verdacht, woran das liegt – ich muss noch mal kurz los in die Stadt.“ „Wenn Du meinst… Dein „kurz“ kenne ich – nimm bitte das Handy mit, damit ich Dich erreichen kann. Und bring bitte Katzenfutter vom EDEKA mit – ist schon wieder alle!“ Als ich fast panisch nach draußen stürze, vergesse ich natürlich mein Smartphone auf dem Küchentisch. Es ist mittlerweile gut nach 11.00 Uhr, die Stadt füllt sich mit Touristen. Es ist Hochsaison und in der Prinzenstraße ist es schon rappelvoll.
Das Paludanushaus – Front komplett verschwommen, dahinter schimmern kaputte Wände, Das Doppelgiebelhaus sieht aus wie eine Fata Morgana – überall sind transparent wabernde Lücken, Hausmarken – fast alle weg, nur noch Löcher, Remonstrantenkirche – kein Turm mehr, Marktpumpe – nur noch Stufen…
Ich sehe eine Gruppe, die offensichtlich eine Fotoexkursion macht, alle haben ihre Kameras auf die alten Patrizierhäuser am Markt gerichtet. Während ich wie gelähmt bin, unfähig mich zu rühren, schreien möchte, aber keinen Ton herausbekomme, sehe ich wie Stück für Stück bei jedem Klick, Fenster für Fenster, Haus für Haus langsam und unwiederbringlich im Nichts verschwindet und nicht einmal Eisdiele, Pizzeria, Apotheke, Pub und Bäckerei übrig bleiben. Stattdessen tauchen Hinterhöfe und marode Schuppen auf. Ich drehe mich um – der Markt ist ebenfalls weg, Grachten, Grachtenboote, Brücken, historische Häuser, Bäume – alles verschwunden! Nur der hässliche Neubau mit der Hypo Vereinsbank steht noch… Hilfe! Sofort aufhören damit! Nichts mehr wegknipsen! Handys, Tablets und Kameras sofort ausmachen! Weg damit! Nein! Ihr vernichtet unsere Stadt! Wo ist mein Haus? Ich muss auf der Stelle zum Bürgermeister! Wo ist denn das Rathaus hin? Bitte Hilfe! Tut was! Merkt das den keiner? Kriegt Ihr überhaupt noch was mit hier? Hilfe! Neeeeeiiin! Ich zittere, alles dreht sich, ich schluchze laut, es schüttelt mich, jemand hält meine Schultern…
„Was ist denn los? Ganz ruhig! Hallo mein Schatz – alles ist gut!“, flüstert meine Frau.
„Nein ist es nicht, unser ganzes Haus ist weg, Stadt ist weg, alles weggeknipst“ – wo bin ich?
„Na hier in Deinem Bett neben mir! – sanfter Kuss auf meine Stirn ihrerseits – was war denn?“
„Ich hatte einen wahnsinnigen Alptraum – kann bestimmt jetzt nicht mehr einschlafen…“ entgegne ich matt, „gut, dass das nicht wahr ist, das wäre Stoff für einen Grusel-Schocker!“
„Es ist erst kurz nach Acht, wir haben Sonntag und könnten eigentlich mal länger schlafen,“ mault sie, „aber ich steh´ dann jetzt auf, geh´ ins Bad und mach´ danach schon mal Frühstück. Du holst Brötchen, und dann erzählst Du gemütlich beim Tee.“
„Das wird mir gut tun“ sage ich erleichtert, „bin dann gleich mal los!“ Sporthose,
T-Shirt, die grau-blaue Fleecejacke drüber und Sandalen muss reichen. Es ist ja noch Sommer. Ich schnappe mir 5 Euro – wird wohl genug sein. Was man so alles träumt – Maik wird sich kringeln, wenn ich Ihm das später erzähle.
Ich öffne die Haustür, atme tief ein und trete nach draußen…
…mein Blick fällt auf Maik´s Haus. Es ist weg! Mir wird schwarz vor Augen, alles dreht sich, die Erde will mich verschlingen…
Markus Jung, 2019